Wie aus Google Maps eine App für alles wurde
Reto Stauffacher | Neue Zürcher Zeitung
Quelle: nzz.ch
Google Maps hat sich zur wichtigsten App für Gastronomie, Handel und Tourismus entwickelt. Bis zur «Super-App» ist es nicht mehr weit.
Am Wochenende hat ein Künstler aus Berlin mit einem Google-Maps-Hack für Aufsehen gesorgt: Mit 99 Smartphones in einem Schubkarren spazierte Simon Weckert eine Strasse entlang und manipulierte so die Verkehrsanzeige auf Google Maps. Während des Experiments wurde auf der betreffenden Strasse in Echtzeit Stau angezeigt, obwohl dort kein einziges Fahrzeug verkehrte. Den Nutzern von Google Maps wurde empfohlen, eine andere Route zu befahren. Dass der Trick wirklich funktioniert, ist einleuchtend, da Google den Verkehrsfluss aufgrund von GPS- und Handydaten sowie basierend auf Erfahrungswerten analysiert. Auf einer vielbefahrenen Strasse hätte es nicht geklappt, da Google von anderen Verkehrsteilnehmern widersprüchliche Signale erhalten hätte.
Mit seinem Projekt wollte Weckert aufzeigen, wie gross der Einfluss von Diensten wie Google Maps auf die Gesellschaft ist, indem sie Menschenmengen steuern und Bewegungsprofile prägen. Es sei einschneidend, wie sehr die Simulationen von Google unsere Wahrnehmung physischer Räume verändert habe und die Art, wie wir Kartografie verstehen. So sehr das Projekt auf den sozialen Netzwerken nun abgefeiert wird: Peinlich ist der Hack für Google keineswegs. Der Konzern kann nicht davon ausgehen, dass mit 99 aktivierten Smartphones künstliche Staus erzeugt werden.
In Echtzeit auch bei Terror
Die Dienste von Google Maps sorgen immer wieder für Aufsehen. Ein Beispiel: Während des Terrorangriffs auf der London Bridge im vergangenen November meldete der Kartendienst exakt zur Zeit des Anschlags einen Einbruch des Verkehrsflusses: «Weniger Besucher als gewöhnlich.» Während dies einige als zynisch empfanden, so zeigte das doch eher, wie akkurat die App mittlerweile funktioniert.
Vor 15 Jahren erst gestartet, ist Google Maps inzwischen tief in unseren Alltag eingedrungen. Die App zeichnet nicht nur Bewegung und Aktivität jedes einzelnen Nutzers extrem detailliert auf (sofern das Tracking auf dem Smartphone nicht ausgeschaltet ist), sondern auch die Mobilität einer ganzen Stadt. Wie hat es Google geschafft, dass mehr als eine Milliarde Menschen Tag für Tag diese App nutzen?
Mit dem Kartendienst Google Maps, mit den 360-Grad-Ansichten von Google Street View und Google Earth ist es möglich, jede Ecke der Welt vom Smartphone aus zu entdecken. Damit hat Google unsere Sicht auf diese Welt fundamental verändert. Doch Maps ist inzwischen weit mehr als das. Der Dienst ist Navigator, Reiseleiter, Restaurantkritiker und Freizeitplaner in einem und damit zu einer multifunktionalen App geworden. Wer ein Café, einen Arzt, einen Park, eine U-Bahn-Station, ein Konzert, ein Hotel, ein Taxi oder eine Zugverbindung finden oder bewerten will, der kann Google Maps kaum mehr ignorieren. «Wir möchten, dass die Nutzer alles bei uns erledigen können, was im Alltag ansteht», formuliert Google seine Mission. Der Nutzer soll die App im Idealfall einmal öffnen und nie wieder schliessen.
Erst die Community macht Google Maps erfolgreich
Und Google forciert die Entwicklung von Google Maps immer stärker. Allein im vergangenen Jahr wurde die App monatlich erweitert. Unter anderem ist es nun möglich, Ortsnamen in der lokalen Sprache vorsprechen zu lassen oder personalisierte Listen zu Restaurants zu abonnieren.
Laut eigenen Angaben sind für Google zudem mehr als 120 Millionen sogenannte «Local Guides» in mehr als 24 000 Städten im Einsatz. «Local Guides» sind verifizierte Nutzer, die in ihrer Heimatstadt besonders aktiv sind und zahlreiche gut bewertete Reviews geschrieben haben. Mit diesem Anreizsystem hat es Google nicht nur geschafft, eine treue Community aufzubauen, sondern gleichzeitig auch eine Qualitätskontrolle für Reviews zu etablieren. Diese erfolgt erstens durch die schiere Menge – je mehr Kommentare von verifizierten Nutzern, desto eher stimmt der Inhalt – und zweitens durch das Qualitätslabel der «Local Guides». Der Guide mit der momentan höchsten Punktzahl etwa in der Schweiz ist der Waadtländer Christophe Subilia.
Tripadvisor? Yelp? Abgehängt!
Von Google Maps richtiggehend überrollt wurden die früheren Marktführer Tripadvisor und Yelp. Auch der Rivale Facebook spielt bei Bewertungen keine grosse Rolle mehr. Ähnlich erfolgreiche Engagement-Zahlen wie Google Maps weisen nur noch die grossen Buchungsportale Booking.com oder Hostelworld.com aus, die die Bewertung von Aufenthalten ebenfalls sehr stark in ihr Nutzererlebnis integriert haben. Wer also im Tourismus, im Handel oder in der Gastronomie tätig ist, kommt um Google Maps nicht mehr umhin.
Für Betriebe ist diese Feedback-Kultur in erster Linie eine Chance, weil gute Qualität digital honoriert wird und im besten Fall einen Anreiz schafft, den Service zu verbessern. Diese Abhängigkeit von Google kann aber auch gefährlich sein. Wie die Konsumentensendung «Kassensturz» kürzlich berichtete, beklagte ein abgelegenes Bergrestaurant im Kanton Bern einen Reputationsschaden, weil die Anfahrt auf Google Maps falsch angezeigt wurde. Anstatt den direktesten und einzig sicheren Weg zum Restaurant anzuzeigen, leitete Google die Autofahrer entweder in ein Fahrverbot oder in einen dichten Wald. Erst nach mehrmaliger Intervention passte Google die Anzeige an.