Vergesst die Effizienz!

16.07.2023.

Prof. Dr. Nils Hafner

Weg von Effizienz hin zum nachhaltigen Umgang mit Kundenanliegen. Dieser Artikel soll zum Nachdenken anregen, wie Kundenfokus durch Technologie erreicht werden kann. Eine Schlüsselrolle dabei spielen die Kontaktgründe.

Die Diskussion um die Leistungen des Kundenservice haben endlich das Management erreicht. Gerade Grossunternehmen realisieren, dass sie bei der Verbesserung Ihrer Customer Experience (CX) nicht weiterkommen, solange sich Kunden über lange Wartezeiten, ungelöste Anliegen und kurzangebundene Mitarbeitende am Telefon beschweren. Gleichzeitig nehmen sie wahr, dass sowohl die andauernde Effizienzorientierung als damit auch das Einsparungspotential im Kundenservice an seine Grenzen gelangt ist. Der Krankenstand ist mit im Durchschnitt 10,2 Tagen pro Jahr auf dem Level von Mitarbeitenden doppelt so hoch, wie der von Teamleitenden oder Stabsstellen. Die produktive Kundenzeit liegt mittlerweile nur noch bei 68%. Das zeigt das Service-Excellence-Cockpit.

Diese Zahlen belegen, dass bei der Steuerung von Kundenserviceeinheiten dringend umgesteuert werden sollte. Viele Unternehmen versuchen daher, Kundenkontakte durch digitale Self-Service-Tools oder Bots zu beantworten. Auch sind Bots heute schon sehr erfolgreich. Chatbots beantworten mehr als zwei Drittel der an sie gerichteten Fragen, wie eine Studie von Forward Benchmark und der HSLU zeigt. Nur: Wenn schweizweit lediglich ein Prozent aller Anfragen an die Unternehmen per Chat gerichtet wird, helfen solche Tools nur marginal. Es fehlt offensichtlich weithin an Verständnis dafür, wie Technologie eingesetzt werden sollte, um wirklich kundenorientiert agieren zu können.

Der Schlüssel zur Entwicklung einer solchen Strategie liegt in einem vertieften Verständnis der Kundenkontaktgründe und dem damit verbundenen Kontaktvolumen über das gesamte Unternehmen. Wir haben in den letzten vier Jahren in über 50 Organisation immer wieder Listen von Kundenkontaktgründen gesehen, die aus verschiedenen Gründen ungeeignet waren, um die Automatisierungsentscheidung fundiert zu treffen. Dabei sind uns vor allem Kontaktgrundlisten aufgefallen, die

  • Mehr über 100 Einträge umfassten, wobei in der Auswertung mehr als 50% der Kontakte als „Sonstiges“ oder „Allgemein“ klassifiziert wurde.
  • Produktorientiert und nicht kundenorientiert zu Statistikzwecken geführt wurden, und wenig aussagekräftig sind.
  • Vor mehr als 10 Jahren erstellt wurden und auf der bspw. alle Kontaktgründe fehlen, die sich auf digitale Touchpoints des Unternehmens beziehen. Gartner hat jedoch schon 2019 darauf hingewisen, dass schlechte Umsetzung von digitalen Kundenkontaktpunkten zu einem erheblichen Mehraufwand am Telefon führen.

Zusätzlich stellen wir im Austausch mit Geschäftsleitungen gerade von Händlern und Finanzdienstleistern fest, dass vermehrt auch bspw. Produkt-Spezialisten wieder einen Grossteil der Zeit mit Kundenkontakten verbringen. Gesamthaft sind dies Indikatoren dafür, dass der Scope und die Inhalte des Kundenservices lange nicht überarbeitet worden sind.

Weiterhin ist festzustellen, dass Contact Centers sich nicht integriert bspw. mit den Marketingabteilungen oder der Unternehmenskommunikation gerade grosser Unternehmen austauschen. Wieviele Anrufe oder Mails könnten beispielsweise vermieden werden, wenn Kunden ihre Anfragen schon auf der Website beantwortet bekommen? Der deutsche Versicherungsvorstand der HUK24 Dr. Uwe Stuhldreier bringt es auf den Punkt: „Jedes Mail ist ein Versagen der Website.“ Recht hat er. Nur muss dafür produktübergreifend klar sein, wieviele Kunden anrufen, weil sie etwas nicht gefunden oder falsch verstanden haben. Und diese Untersuchung sollte man regelmässig machen. Gleiches gilt für den Massenversand von Kampagnen aus dem Marketing oder Abrechnungen aus der Buchhaltung. Eine staatliche Informationsstelle stellte jüngst fest, dass sie zwei Drittel der Mitarbeitenden ihres Kundendienstes damit beschäftigt, Nachfragen von Kunden zu Kampagnen oder Abrechungen zu beantworten. Im Kundenkontakttool wurde dieser Sachverhalt als „Allgemein“ rapportiert.

Sind Kundenkontaktgründe und die dazu gehörigen Volumina touchpointspezifisch erst akkurat erfasst, existieren heute jedoch fantastische technische Möglichkeiten, Kundenkontakte zu automatisieren, zu vereinfachen oder sogar komplett zu vermeiden. Hat man beispielsweise verstanden, welche Zielgruppen Verständnisprobleme mit Abrechnungen haben, können generative AI-Tools wie ChatGPT dabei unterstützen in Kürze passende Texte für eine bestimmte Zielgruppe (bspw. Bestager oder Generation Z) zu verfassen, um diese im Erstkontakt ideal „abzuholen“. Service und Marketingautomation wächst anhand dieses Beispiels ideal zusammen.

Auch kann AI im telefonischen Kundenkontakt das persönliche Gespräch besser und schneller gestalten. Fast alle Hersteller grosser Kontaktmanagement-Systeme fokussieren sich heute darauf, die Kundenhistorie eines Anrufers bei Rufnummernerkennung zu scannen und daraus Rückschlüsse auf mögliche Anrufgründe zu ziehen. So sind die Systeme in der Lage, zunächst aufgrund der hinterlegten Skills der Mitarbeitenden den passenden Agent zu wählen und diesen im Anschluss mit den wichtigsten Informationen (Rechnungen oder einer Anleitung oder Garantiebestimmung zu einem gerade erworbenen Produkt) zu versorgen.

Die aus unserer Sicht wichtigste Anwendung von AI ist jedoch die Sprach- oder Textanalyse. Gerade, um die vernachlässigte Liste der Anrufgründe neu zu verfassen, kann ein systematischer Scan der Kundenkontakte einer bestimmten Periode sehr hilfreich sein. Doch vorher und anschliessend geht es knallhart um Führung. Vorher, weil Manager den Nutzen eines Reviews der Kundenkontakte beschliessen müssen. Ein hoher Arbeitsrückstand, Krankenstand oder Mitarbeitendenchurn im Comntact Center kann dafür ein Indikator sein. Nachher, weil die Kundenkontaktgründe auch weiter erfasst werden müssen, um so strategisch und langfristig daran arbeiten zu können, Kontakte systematisch entweder zu reduzieren oder ein fantastisches Kundenerlebnis zwischen Mitarbeiter und Kunde möglich zu machen. Gute Beispiele dafür gibt es zuhauf.

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