Mittendrin im Turbowandel
Von Dr. Jens-Uwe-MeyerSie sind am Steuer eines Ozeanriesen. Vor Ihnen taucht ein Eisberg auf. Was tun? Der Eisberg steht symbolisch für das, was in den nächsten Jahren auf Unternehmen zukommt. Es ist der Turbowandel, dessen Auswirkungen immer stärker zu spüren sind. Digitalisierung und Automatisierung, Klimawandel und Nachhaltigkeit, Demografie und Fachkräftemangel – diese Trends werden sich in den kommenden Jahren gegenseitig verstärken. Der Wandel wird noch schneller als im Jahrzehnt vor der Coronakrise geschehen. Und er wird noch tiefgreifender werden.
Egal, ob Sie ein Unternehmen oder eine Abteilung leiten, ob Sie Ihr Team oder sich auf die Zukunft vorbereiten wollen, in den nächsten Jahren werden Sie sich einmal oder sogar mehrmals neu erfinden müssen. Den Reset-Knopf drücken. Alles infrage stellen. Und neu aufbauen. »Angesichts der fundamentalen Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft braucht Deutschland eine kreative Erneuerung«, heißt es in einer McKinsey Studie 2021. Die weltweit führende Management-Publikation, der Harvard Business Review, schreibt 2022: »Das Management muss in der Lage sein, den Platz des Unternehmens in der Welt neu zu definieren.« Auch Führungskonzepte verändern sich radikal. »Wir treffen nach wie vor Entscheidungen wie vor Jahrzehnten schon,« stellt Gartner, ein weltweit führendes IT-Beratungsunternehmen, in seinen Zukunftstrends für die Jahre nach 2022 fest. »Etwas muss sich ändern.«
Denn es ist nicht nur ein einziger Eisberg auf dem Meer, den es zu bewältigen gilt. Das Management der nächsten Jahre wird vergleichbar mit der Navigation durch ein ganzes Meer von Eisbergen. Immer wieder werden neue Hindernisse auftauchen, die Position der Eisberge verändert sich ständig – genauso wie das Wetter. In einer solchen Situation brauchen Unternehmen, Abteilungen und Beschäftigte vor allem eines: Die Fähigkeit, sich immer wieder zu verändern und sich neu zu erfinden. Erfolgreiche Unternehmen machen es vor.
Sich neu erfinden: Die Erfolgsformel für die kommenden Jahre
Es sind nicht nur plakative Fälle wie Netflix, in denen Unternehmen Abschied von dem nehmen, was sie jahrelang erfolgreich gemacht hat. Der Trend, das eigene Unternehmen neu zu erfinden, macht vor keiner Branche und keinem Land halt.
BP hat 2020 einen radikalen Strategiewechsel angekündigt: Weg vom Öl, hin zu erneuerbaren Energien. Siemens steckt mitten in einer Metamorphose vom Anlagenbauer zum Softwarekonzern. GROHE, bekannt durch seine Badlösungen und Küchenarmaturen, treibt mit Produkten wie einer Smart Home Lösung zur Vermeidung von Wasserschäden die Digitalisierung der Sanitärbranche voran. Zwar ist Teslas Model 3 das meistverkaufte Elektroauto 2021 in Deutschland, doch die meisten E-Autos insgesamt verkauft Volkswagen. Larry Fink, CEO des weltweit größten Vermögensverwalters, fordert in einem offenen Brief an Unternehmenschefs weltweit, die Finanzwelt grundlegend umzugestalten.
Auch Städte, Regionen und sogar ganze Volkswirtschaften drücken den Reset-Knopf. Noch Anfang der 2010er-Jahre war das Quartier Zhongguancun im Norden von Peking ein Geheimtipp: Dort konnten Sie billige Raubkopien von Musik-CDs und gefälschte Computerprogramme erwerben. Und heute? Ist es das Hightech-Viertel von Peking, was der chinesischen Hauptstadt den Namen »Das Startup-Zentrum der Welt« einbrachte. Mehr als achtzig sogenannte Einhörner, junge Unternehmen mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar, sind in Peking ansässig.
Überhaupt ist China ein gutes Beispiel für die Fähigkeit, sich selbst immer wieder neu zu erfinden. In den Neunzigerjahren galt das Land als Werkbank der Welt: Günstige Löhne und junge, meist gering qualifizierte Arbeitskräfte, die direkt vom Land in die Fabrik gingen. Dort produzierten sie vom Turnschuh bis zum Elektrogerät alles, was zu verkaufen war. Unschlagbar günstig. Doch das Land ist längst im Umbruch: »Von der ‚Werkbank der Welt‘ hin zu einer Innovationswirtschaft«, wie es die Bundeszentrale für politische Bildung in einer ihrer Publikationen ausdrückt. Im Fünfjahresplan, der im März 2021 verabschiedet wurde, wurde Innovation zum Staatsziel: China möchte im Wettrennen der innovativsten Länder an die Spitze. Reset. Eine Volkswirtschaft erfindet sich immer wieder neu.
Die Eisberge deuten sich schon länger an
Denken Sie kurz zurück an 2010. Wie war das damals? Das Smartphone war gerade auf dem Weg zum Massenmarkt, die Deutsche Telekom schaltete die erste LTE-Station frei und E-Commerce wurde von etablierten Händlern nicht ernst genommen – viele hatten nicht einmal einen eigenen Onlineshop. Damals riefen Zukunftsforscher: »Achtung! Eisberg voraus! Digitalisierung!« Und dann ging es Schlag auf Schlag.
- Am 6. Oktober 2010 geht Instagram online. 2012 kaufte Facebook das Unternehmen für eine Milliarde Dollar.
- Seit September 2014 verändert Netflix – nur wenige Jahre nach dem radikalen Reset – in Deutschland die Art, wie wir Fernsehen schauen.
- Google stellt im März 2016 erstmals einen intelligenten Sprachassistenten vor. Plötzlich ist künstliche Intelligenz keine Science-Fiction mehr, sondern etwas, was wir täglich nutzen.
- 2017 besiegt die Google-Software AlphaGo Ke Jie aus China, den weltbesten Spieler des asiatischen Brettspiels Go.
- 2018 wird ein neuer Rekord im »Schnell-online-reich-werden« aufgestellt: Ryan Kaji verdient sechsundzwanzig Millionen US-Dollar mit YouTube-Videos. Sein Genre: Unboxing. Auspacken von Geschenken vor der Kamera. Das Besondere: Ryan ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt.
- Im April 2019 nimmt Südkorea als weltweit erstes Land ein flächendeckendes 5G-Netz in Betrieb.
- 2021 verkündet Facebook, dass es zukünftig »Meta« heißt.
Letzteres darf man sich nicht vorstellen, wie bei einem Teenager, der sagt: »Ich möchte nicht mehr Max heißen, sondern Meta.« Dahinter steckt die wahrscheinlich größte Vision der Unternehmensgeschichte: Mark Zuckerberg hat dem Konzern das Ziel verschrieben, das Metaverse zu erfinden: Eine zweite virtuelle Lebensrealität. Das ist keine wage Vision mehr. Fortnite-Entwickler Epic plant, das Videospiel so auszubauen, dass es sich als Plattform für ein digitales Universum nutzen lässt.
Schlag auf Schlag eben. Allerdings nicht überall.
Sehen wir es positiv: Da ist noch Potenzial
Es geht nicht darum, über verpasste Chancen zu lamentieren. Es geht darum, nach vorne zu blicken. Darum, wie Unternehmen und ihre Bereiche durch einen Reset langfristig erfolgreich bleiben – egal wie viele Eisberge kommen, wie schnell diese ihre Positionen verändern und wie sehr sich die Großwetterlage ändert. Egal in welchem Bereich Sie tätig sind, egal in welcher Branche und auf welcher Hierarchiestufe: Sie haben die Chance, den Wandel der nächsten Jahre aktiv mitzugestalten. Und diesen Wandel für sich als Abenteuer zu gestalten.
Disruption – Wie sich die Zukunftstrends gegenseitig verstärken
Keiner der drei Trends Nachhaltigkeit, Demografie und Digitalisierung steht für sich allein. Im Gegenteil: Es ist die Mischung aus diesen drei Trends, die den Wandel massiv beschleunigt Sie werden sich in den kommenden Jahren zu einem Trend verdichten, den man als dreifache Disruption bezeichnen kann. Sie verlaufen nicht parallel, sondern beschleunigen und verstärken sich gegenseitig.
Die Technologien sind da – jetzt sind Unternehmen gefragt, sich zu verändern
Dass Unternehmen ihr Potenzial bei der digitalen Transformation aktuell bei weitem nicht ausschöpfen, zeigen Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Der bisherige Produktivitätszuwachs, so die OECD, durch die digitale Transformation ist bis 2019 eher enttäuschend gewesen. Trotz des Einsatzes künstlicher Intelligenz, trotz des mobilen Internets und trotz der weltweiten Vernetzung von Maschinen (Industrie 4.0) stieg die Produktivität zwischen 2008 und 2017 deutlich geringer als in den zehn Jahren zuvor.
Im Economic Outlook 2019 nannte die OECD dafür Gründe: die Technologien seien vorhanden, aber es fehle an Organisations- und Managementfähigkeiten, Innovations- und Finanzierungskapazitäten sowie politischen Maßnahmen. Anders ausgedrückt: digitale Technologien sind da, jetzt braucht es Menschen und Organisationen, die daraus Neues entwickeln. In den nächsten Jahren wird das passieren. Denn durch den Fachkräftemangel werden Unternehmen praktisch zur Produktionssteigerung gezwungen. Die Alternative ist nur die Einstellung des Geschäftsbetriebs. So bedingen sich Demografie und Digitalisierung gegenseitig.
Zur Mischung aus Digitalisierung und Demografie kommt Nachhaltigkeit dazu. Grundsätzliche Fragen tauchen auf, beispielsweise in der Logistik.
- Ist es sinnvoll, so viele Lieferwagen durch die Städte zu schicken?
- Geht Logistik nicht klimafreundlicher?
- Müssen wir Logistik ganz neu erfinden?
Der Wandel wird künftig noch schneller geschehen, als es viele noch im Jahr 2020 angenommen haben: Politisch gesetzte Ziele geben neue Rahmenbedingungen vor. Digitalisierung ist in der Breite der Belegschaft von Unternehmen und auch bei Kunden angekommen. Und für das künftige Wachstum stehen vielfach keine neuen Fachkräfte bereit. Unternehmen und Organisationen werden praktisch zur Innovation gezwungen.
Wie lässt sich das managen? Durch einen Reset. Teams und Unternehmen, die die Fähigkeit besitzen, Unternehmen, Strukturen, Angebote und Kundenbeziehungen neu zu denken, werden zum Gewinner des Turbowandels gehören.
Durch einen regelmäßigen Reset können Unternehmen und Organisationen
- der Verbesserungsfalle entkommen, in der Dinge zwar stets optimiert, aber selten neu erfunden werden.
- Projekte nicht nur initiieren, sondern in all ihrer Komplexität – der Entwicklung neuer Technologien, der Beachtung von Regulatorik, den Barrieren bei der Einführung und Umsetzung – erfolgreich umzusetzen.
- die Wucht der Veränderung, getrieben durch die Bündelung mehrerer Trends, erfolgreich bewältigen zu können.