Industrie 4.0 – the Swiss Way

15.07.2018.

Jenseits von Industrie 4.0 findet zurzeit ein Paradigmenwechsel statt, der in der Schweiz nicht genug diskutiert wird. Der Unternehmer und Hochschuldozent Alain Sandoz sieht hier die Chance für einen neuen Schweizer USP, der sich nicht in ständigen Vergleichen mit Silicon Valley erschöpft.

Herr Sandoz, in puncto Digitalisierung oszilliert man in der Schweiz gern zwischen zwei Polen: Uns geht es so gut und wir machen es richtig beziehungsweise wir sind hoffnungslos im Rückstand. Wo würden Sie die Schweizer Industrie beim Thema Industrie 4.0 verorten?

Beides ist wahr. Wir sind sehr gut und sehr schlecht. Das hängt aber mit meiner persönlichen Definition des Industrie 4.0-Phänomens zusammen. Reden wir nämlich von Dingen wie Smart Factory – intelligenten, mit allerlei Sensoren ausgestatteten Produktionsanlagen also –, tut sich einiges. Für mich ist das der erste Weg in Richtung Industrie 4.0. Er ist klar getrieben vom technischen Fortschritt – vor allem von Sensoren, die Details noch auf atomarer Ebene erfassen können. Gleichzeitig wandern solche Sensoren auch in neue Produkte. Das ist der zweite Weg. Dem unterliegenden Paradigmenwechsel wird aber keiner dieser Pfade gerecht. Trotz aller Innovation ist das am Ende nichts anderes als technisch gestützte Effizienzsteigerung.

Sie haben also etwas anderes im Sinn?

Wir müssen weiter denken, mittel- bis langfristig. So wichtig intelligente Fabriken und intelligente Produkte jetzt sind, werden wir bei einem einseitigen Fokus auf diese Dinge auf Dauer zurückbleiben. Was wir brauchen, ist ein neuer USP. Ich denke, die Schweiz befindet sich in der einmaligen Position, dem Industrie 4.0-Trend einen eigenen Stempel aufdrücken zu können.

Und wie soll das geschehen?

Genau wie das Silicon Valley ist die Schweiz ein einzigartiger Ort. Aber nicht im Sinne eines direkten Vergleichs – solche Versuche führen nirgends hin, nicht einmal zu einer guten Kopie. Was ich meine, ist, dass die Schweiz, genau wie das Valley, globale Alleinstellungsmerkmale hat. Wir haben gut ausgebildete Leute mit einer hohen Motivation. Unsere Beziehung zum Arbeitsleben ist kulturell einmalig, unsere ganze Identität ist damit verknüpft. Ausserdem haben wir ein einzigartiges Beziehungsgeflecht. Technologieorientierte Menschen reden viel miteinander – über Arbeit, über Innovation. Das funktioniert gut, weil der kulturelle Rahmen für alle gleich ist. Man hatte dieselben Lehrer, liest die gleichen Bücher usw. So weiss man, was der andere meint. Gleichzeitig sind wir geografisch sehr nah zusammen. Das gibt es auf der Welt kein zweites Mal in dieser Dichte. Deshalb können wir komplexe Probleme lösen.

Komplexe Herausforderungen werden auch an anderen Orten gelöst.

Ich meine Komplexität im wissenschaftlichen Sinne. Dort, wo beispielsweise ein Unternehmen aufgrund von Wachstum eine fundamental andere Entität wird. Komplexität heisst, dass mehr vom Gleichen keine weiteren Ergebnisse produziert. Werden gewisse Grenzen überschritten, treten nämlich neue Phänomene auf, die völlig anderer Lösungen bedürfen. Man bezeichnet das gern als Emergenz. Und für solche komplexen Probleme sind wir gut positioniert. Wir sind uns dessen nur nicht bewusst, weil wir in den falschen Dimensionen denken.

Was meinen Sie damit?

Vor einigen Jahren wurde ich engagiert, eine Speziallösung für einen brasilianischen Zuckerrohrpflanzer zu entwickeln. Das Unternehmen war sehr gewinnträchtig, kämpfte aber mit einer bestimmten Sorte Unkraut. Dieses musste durch hohen Personalaufwand beseitigt werden. Leider waren immer weniger Menschen bereit, das zu machen – niemand wollte mehr Unkraut jäten. Eine passende technische Lösung gab es nicht. Das Unternehmen wandte sich an uns und in Kooperation mit einigen Schweizer Unternehmen und Hochschulen entwickelten wir einen Spezialroboter.

Was hat das denn mit dem USP der Schweiz zu tun?

Das ist das dimensionale Denken. Es ist doch interessant, dass ein Bio-Produzent, der eine Fläche von 30’000 Hektaren bewirtschaftet und dort einen um 25 Prozent höheren Ertrag als Monsanto erreicht, keine Lösung am Weltmarkt kaufen konnte. Warum? Selbst mit diesen 30’000 Hektaren produzierte das Unternehmen kaum mehr als 0,5 Prozent der gesamten brasilianischen Ernte. Das meine ich mit Dimension. Für die Schweiz ist das eine grosse Fläche, im globalen Kontext ist es fast nichts. Und obwohl das Unternehmen bereit war, einige Millionen und mehrere Jahre Entwicklungszeit zu investieren, war kein internationaler Ernteroboterhersteller interessiert zu helfen.

Wo liegt hier die Chance für die Schweiz?

Wie gesagt, unser USP liegt im Lösen von komplexen Problemen. Trotzdem hätte das einer allein nicht geschafft. Einem einzelnen Schweizer Mittelständler hätten die Ressourcen gefehlt. Durch Kooperation hatten wir aber Zugriff auf die nötigen Skillsets. Wir konnten ein Konsortium bilden, das eine technisch höchst anspruchsvolle Lösung entwickelte. Und das ist die Chance, die wir ergreifen müssen. Wir müssen durchaus auch aktiv nach komplexen Problemen suchen, die eine Kategorie zu gross für die Schweiz sind, aber zu klein für die globalen Grosskonzerne. Dort entwickeln wir dann eine Lösung, kein Produkt wohlgemerkt.

Warum kein Produkt?

Wir sind zu klein für globale Produkte. In der heutigen Welt schützt Sie nur die IP und als Schweizer Mittelständler mit ein paar Patenten stehen Sie Unternehmen gegenüber, die zehn oder zwanzig Mal mehr Mitarbeitende haben und Hunderte von Patenten beantragen. Die können Sie mit Anwaltskosten in den Ruin treiben. Ausserdem ist Ihr Patentantrag nur ein Jahr geheim. Sobald dieser offengelegt wird, wird die Lösung schon kopiert oder ein Weg an ihr vorbei gesucht.

War das nicht immer schon so?

Patente waren in der Welt von gestern ein effektiver Schutz. Mit der Globalisierung sind ganze Erdteile in den internationalen Wettbewerb eingetreten. Als Schweizer Werkzeugmaschinenhersteller sitzen Ihre Konkurrenten mittlerweile schon in der Türkei, mal abgesehen von Indien oder China. Und hier spielt die Dimensionalität wieder eine Rolle. Bei 4000 Mitarbeitenden sind die Chancen einfach höher, die richtigen Skillsets für jede Situation zu haben oder Dutzende von Patenten beantragen zu können.

Sollten wir jetzt die ganze Schweizer Wirtschaft in Konsortien verwandeln und aufhören, Produkte herzustellen?

Wenn man Aussagen wie meine macht, ist das immer die erste Kritik. Ich verlange ja weder eine Revolution noch die Aufgabe erfolgreicher Strategien und Lösungen. Ich denke einfach, die Welt ist eine andere als noch vor 20 Jahren und Industrie 4.0 im herkömmlichen Sinn keine adäquate Lösung. Mein Vorschlag ist, das eine tun und das andere nicht lassen. Intelligente Fabriken und Produkte sind kurz- und mittelfristig gute Wege. Sie helfen aber nicht, den eigentlichen Paradigmenwechsel zu navigieren. Also müssen wir uns fragen, wie die Schweizer Wirtschaft in der Welt von morgen nicht nur überleben, sondern auch prosperieren kann.

Und das wäre ein dritter Weg?

Ja. Es gibt noch andere Ansätze, dieser aber ist zentral. Wir sollten versuchen, unsere einzigartigen Vorteile so zu verpacken, dass sie Probleme lösen, über die wir traditionell nicht nachdenken, da die Dimensionen uns fremd sind. Das ist eine Lücke, in die wir stossen können! Die Welt wird immer komplexer und es wird in Zukunft immer mehr solcher Probleme geben. Zu klein für globale Player, zu gross für die traditionelle Schweiz und mit vielen potenziellen Kunden, die gern ein paar Millionen in die Hand nehmen. Wenn wir nur drei bis vier Prozent unserer Energie in einen solchen Ansatz stecken, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten.

Christian Walter, swiss made software

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