„Der Sonderweg ist eine Plattitüde. Vielleicht waren die Deutschen nur zu erfolgreich.“

25.06.2021.

von: Prof. Dr. Michael Stürmer

Reflexionen zur Reichsgründung vor 150 Jahren. Interview mit dem Historiker Prof. Dr. Michael Stürmer

Es gibt eine Reihe von großen Geschichtswerken, die das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 be-schreiben und analysieren. Hans-Ulrich Wehler in seiner Gesellschaftsgeschichte, Sie selbst 1983 in Ihrem Werk „Das ruhelose Reich” und Thomas Nipperdey 1990 und 1992 in seinen Studien über Bürgertum, Kultur und Politik des Kaiserreichs. Warum ist das Kaiserreich so interessant, dass es immer wieder in großen Überblicksdarstellungen beschrieben wird?

Die Reichsgründung ist ein Riesenereignis der europäischen Geschichte aus dem einfachen Grunde, weil hier ein deutsches Großereignis zu einem Umsturz und Umbruch des europäischen Systems wird. Das bezeichnete Benjamin Disraeli, einer der großen Politiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als „German Revolution“. Nicht eine Revolution wie die französische, die sei verhältnismäßig sekundär. Nein, bedeutsamer noch als die Französische Revolution. Das ist ein ernstes Wort, vielleicht eine Übertreibung; es musste ja nicht so kommen, das darf man nicht vergessen. Aber wenn der Premierminister des britischen Empire dies im House of Commons sagt, war das eine sehr ernste Sache. Man kann die Frage stellen, ob die Reichsgründung eigentlich zu vermeiden war?

Da komme ich auf die Rolle Bismarcks und die der Kriege im Reichsgründungsprozess. Die Historiker sagen gern, es gebe die drei „Einigungskriege“ [1864 den Deutsch-Dänischen, 1866 den Preußisch-Österreichischen, 1870/71 den Deutsch-Französischen], sie waren jedoch in jeder Kategorie, in der man Krieg betrachten und bewerten kann, ver-schieden, vom Anlass, von der Bedeutung, in Verlauf und Ergebnis. Immer gab es andere außenpolitische Begleitumstände und Ursachen. Das einzige, was wahrscheinlich durchlaufend gilt, ist der Amerikanische Bürgerkrieg [1861-1865], der im Hintergrund eine gewaltige Rolle spielte mit immerhin 500.000 Toten auf beiden Seiten und einer tiefen Verformung des Weltstaatensystems. Das alles gibt Bismarck, den deutschen Nationalliberalen, der nationalen Stimmung einen ganz anderen Abstoßpunkt, als wenn die Reichsgründung in tiefster Ruhe und Frieden geschehen wäre. Auch 1848 wirkt tief hinein in die Reichsgründungszeit, etwa ausgehend vom allgemeinen Wahlrecht oder den nationalen Stimmungen.

Das Kaiserreich war der Zentralstaat in Europa. Sollte das Kaiserreich seine Rolle nicht finden oder erst im Gegensatz zum übrigen Europa definieren, war das für alle anderen Mitspieler im europäischen Staatensystem eine ernste Verunsicherung und Herausforderung, Warum ist dies so interessant? Wegen der zwei Weltkriege, deren Entfesselung bis heute oft zu einhundert Prozent dem Kaiserreich zugeschrieben wird, jedenfalls in der Politik und von vielen Historikern. Das vereinfacht zweifellos die Dinge zu sehr und ist in der politischen Historie längst überwunden. Wir sind nicht mehr bei Fritz Fischer [1908-1999, deutscher Historiker] und seinen Thesen, sondern erheblich darüber hinaus. Das Merkwürdige ist, dass trotzdem ganz entscheidende Bücher gerade der englischen Welt nicht zur Kenntnis genommen werden. Etwa Gordon A. Craig [1913-2005, amerikanischer Historiker], meinem akademischen Lehrer, der zwar Deutschland im Zentrum des Konfliktes sah, aber keineswegs die Ansicht vertrat, dass Berlin den Ersten Weltkrieg allein vom Zaun gebrochen hätte. Oder nennen wir George F. Kennan [1904-2005], einen der besten Kenner Russlands und Deutschlands in Amerika. Er war einer der großen Diplomaten und Historiker Amerikas, der lernte, Russland/die Sowjetunion zu begreifen. Seine Thesen waren auffallend anders als die in Deutschland, wo es eine Haltung gab, als sei Außenpolitik die Verwirklichung des Bösen in der Welt. Das war die Folge einer abnehmenden Befassung mit Außenpolitik. Wenn man sich für Gesellschaftsgeschichte entscheidet, kommt die Außenpolitik methodisch eben nur schwer zu Wort. Versucht man dann, die komplexen Themen einzubeziehen, die gegenwärtige Maßstäbe der Beurteilung weitgehend ignorieren, kommen widersprüchliche und schwache Deutungen heraus. Das erlebten wir in den letzten Monaten und Jahren erneut bei der Beurteilung des Kaiserreichs. Denn die Thesen von Christopher Clark [australischer Historiker] sind weder aufregend noch neu, sie erschienen nur der deutschen Öffentlichkeit als phantastische Eröffnung.

Offenbar ist die deutsche Haltung gegenüber der Reichsgründung noch immer bestimmt von einer Art Trauma und protestantischer „Sündenlust“: Wenn wir schon alles Böse getan haben sollen, dann wollen wir es auch gründlich getan haben. Die Differenzierung, die in solchen Fragen essentiell ist, spielt keine Rolle mehr. Das hat mit Geschichtswissenschaft und der Vieldeutigkeit des Historischen nur noch wenig zu tun. Wir befinden uns auf einem Gebiet, das immer noch schwierig ist. Auch bei sinnstiftenden Ansprachen deutscher Politiker, ob Außenminister oder Bundespräsident, macht man es sich oft einfach; in diesem Fall die Redenschreiber. Da ich selber mal einer war, habe ich Erbarmen mit den Schwierigkeiten, jeden Tag etwas Kluges und Neues, nicht Anstößiges zu produzieren. Aber es ist schon vereinfacht, wenn ein Außenminister, nicht der aktuelle, in einem Aufwasch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die man genau unterscheiden muss, allein Deutschland gut- bzw. schlechtschreibt. Das ist ärgerlich, denn es gibt der Geschichte eine moralische Drehung, die in manchem sicher zutreffend ist und zu Erkenntnissen führt, in anderem aber nicht.

Da Sie Fritz Fischer ansprechen. Es gab mit ihm und befeuert auch durch DDR-Historiker lange Debatten über einen deutschen Sonderweg, der über ein angeblich besonders militaristisches Kaiserreich in den Ersten Weltkrieg und später in den Nationalsozialismus mündete. War das Kaiserreich der Beginn eines Sonderwegs?

Der Sonderweg ist eine Plattitüde. Jedes Land beansprucht einen Sonderweg. Man gebe mir in Europa ein einziges Beispiel, wo ein „Sonderweg“ einmalig, unwiederholbar und gänzlich einzigartig war. Das gibt es nicht. Jedes Land, von Polen bis Lichtenstein, hat seinen Sonderweg. Manche sehen sich schöner an als andere. Aber betrachten wir die Debatten um die Revision der Kolonialzeit in den USA oder England, die sind schmerzhaft, und ihnen muss man sich stellen. Und nicht dem, was seit sechzig Jahren erörtert Gründe, den Krieg, der ohnehin für unausweichlich gehalten wurde, besser jetzt als später zu wünschen. Alle waren rational gebunden, Österreich-Ungarn sowieso und hatten keine Ahnung von dem Verhängnis, von dem sie ein Teil waren.

Quelle und gesamtes Interview: kas.de

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