Ohne diplomatische Umgangsformen wird es gefährlich

06.12.2021.

von: Prof. Dr. Michael Stürmer

Die Spannungen zwischen Washington und Moskau haben tiefe kulturelle Wurzeln: Die Politik der USA kann jeden Tag mit den Morgennachrichten neu beginnen – Russen lieben es geradezu, an der Erinnerung zu leiden.

Nicht jede Frage muss gestellt, nicht jede Antwort gegeben werden. Als jüngst US-Präsident Biden dem für seine Fangfragen bekannten George Stephanopoulos von ABC News ein Interview zur Weltlage gab, hielten Diplomaten in der ganzen Welt für einen Moment den Atem an.

Biden war gefragt worden, ob er glaube, dass Russlands Präsident Putin ein „Killer“ sei. Die knappe Antwort Bidens: „Yes, I do.“ Dem war die unpräsidentielle Bemerkung vorausgegangen, der russische Präsident habe „keine Seele“. Ein paar Jahre zuvor hatte Bidens Amtsvorgänger George W. Bush noch treuherzig versichert, er habe Putin in die Augen geschaut und seine Seele gesehen.

Russen und Amerikaner, wenn man eine komplizierte Sache fast unzulässig vereinfachen will, verbindet der Status der Weltmacht. Was sie trennt, ist das Verhältnis zu Macht, Zeit, Vergangenheit und Geschichte. Es sind die unausgesprochenen Voraussetzungen der Politik, die einem tieferen gegenseitigen Verständnis im Wege stehen. Amerikaner plagen sich ungern mit Geschichte, Russen lieben es geradezu, an der Erinnerung zu leiden.

Was den amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan vor einem halben Jahrhundert an seinen Landsleuten zur Verzweiflung trieb, ist zugleich Stärke und Schwäche: die Unbefangenheit im Umgang mit der Macht und gleichzeitig die Idee, jederzeit neu anfangen zu können.

Darin liegt aber auch die Gefahr, die unausgesprochenen Tiefenschichten der Politik nicht zu erfassen. Amerikanische Politik kann jeden Tag mit den Morgennachrichten neu beginnen, russische Politik dagegen beginnt in den Tiefen schmerzhafter Erinnerung aus vielen Jahrhunderten.

Politische Improvisation muss mit anderen Worten immer wieder ernste Kommunikationsdefizite bewältigen. Die rhetorische Entgleisung, in die sich Joe Biden ziehen ließ, ist von dieser Art. Aber auch die einstudierte kalte Gelassenheit des russischen Präsidenten, der den Gewinn an Prestige lächelnd einstrich und seinem amerikanischen Gegenüber gute Gesundheit wünschte.

Doch wie auch immer, Diplomatie bleibt ein schwieriges Fach zu allen Jahreszeiten und nirgendwo mehr als im schwer gestörten Dialog der Großmächte. Wenn Professionalität und Verhandlungsgeschick, die ältesten diplomatischen Umgangsformen, abhandenkommen, wird es gefährlich.

In heutigen Zeiten, wo die Geopolitik, die Schlüsseltechnologien und die Machtgeometrie der großen Mächte immer wieder neue Kombinationen eingehen, und die Regierenden, auch ohne Coronavirus, vor Probleme stellt, die neu sind, voller Missverständnisse, wo Krisen einander ständig überholen, muss man, je höher die Verantwortung, umso vorsichtiger sein.

In guten Zeiten Vertrauen aufbauen

Was schon im bürgerlichen Leben schnell zu Misshelligkeiten führt, deutliche oder überdeutliche Aussprache, kann auch im Staatsleben unversehens Brände entfachen. Worte, einmal in die Welt posaunt, sind schwer zurückzuholen. Diplomatie ist angewandte Staatskunst, und in Zeiten des Umbruchs braucht sie einen Vorrat an Geschichtskenntnis, Realismus und Erfahrung im Umgang miteinander. Sie muss in guten Zeiten jenes Vertrauen aufbauen, das in schlechten Zeiten dringend gebraucht wird.

Zu solcher Vertrauensbildung gehörten die Geheimgespräche von Bobby Kennedy mit dem sowjetischen Botschafter auf der Höhe der Kubakrise 1962, als die Welt den Atem anhielt, bis ein funktionsfähiger, weitgehend geheimer Vertrag über beiderseitigen Rückzug gefunden und formuliert war. Zu den positiven Folgen dieser kubanischen Raketenkrise gehörte die Einsicht beider Seiten, dass ohne Rüstungskontrolle die Welt früher oder später sich selbst zerstören würde.

Ein anderes Beispiel war 1987 die Beendigung der Konfrontation um die landgestützten Mittelstreckensysteme zwischen der Sowjetunion und den USA. Paul Nitze für die Amerikaner und Juli Kwizinsky für die Sowjetunion fanden nach zehn Jahren Hochspannung und Krise einen Kompromiss, die doppelte Nulllösung für Mittelstreckensysteme, die für die nächsten 30 Jahre Grundlage für einen Weltzustand im nuklearen Gleichgewicht war.

Ohne die diplomatische Vorarbeit hätten die Reserven an Vertrauen und Goodwill schwerlich ausgereicht. Dass von diesem System der Kommunikation, der Kontrolle und der Vertrauensbildung heute nur noch Bruchstücke existieren und auch der Rest auf beiden Seiten infrage gestellt wurde und wird, gehört in einen doppelten Kontext: den Niedergang des bipolaren Systems zwischen den USA und Russland – und den Aufstieg Chinas.

Die Wiederherstellung neuer Gleichgewichte wird nicht abgehen ohne diplomatische Feinarbeit und politische Zurückhaltung. Nach Trump hatte die Welt eigentlich gehofft, dass es mit den ungehobelten Äußerungen, törichten Vereinfachungen und Überraschungen erst einmal ein Ende haben würde. Jetzt werden in den USA einige hochrangige Mitarbeiter des Weißen Hauses ihr Vokabular prüfen, ihre Weltkenntnis schärfen und Buße tun müssen.

Der amerikanische Präsident ist qua Verfassung nicht nur Oberkommandierender der Streitkräfte und Chef des gesamten Regierungsapparats. Er muss jederzeit ein nahezu unvorstellbares Maß an Weltkenntnis und Menschenkenntnis haben. Vermeidung von Banalitäten und Beschimpfungen gehört selbstverständlich dazu. Wortwahl ist nicht alles, aber sie kann, wenn nicht im Zügel geistiger Disziplin gehalten, alles verderben. Wie in alten Zeiten gilt, dass das Gespräch zwischen den Regenten der Staaten mehr bedeutet als juristische Feinarbeit an Texten und Verträgen.

Unausgesprochene Regeln

Einer, der es wissen muss, Wolfgang Ischinger, seit Langem Vorsitzender der jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz, hat in seinem Buch „Welt in Gefahr“ ein Plädoyer formuliert, wie es klüger nicht sein könnte: „Zwischenmenschliches Zusammenspiel“ sei auch im Zeitalter der totalen Kommunikation durch nichts zu ersetzen. Dem dienten Gipfeltreffen und Staatsbesuche, deren Choreografie auf einer Vielzahl expliziter und impliziter Regeln aufbaut.

Alles aber steht von Anfang bis Ende unter unbarmherzigem Zeitdruck. Es gibt indessen keine Politik, in den Staaten und zwischen ihnen, die nicht auf „unspoken assumptions“ baut. Die nächste Krise kommt bestimmt, und sie wird keine Zeit lassen, um versäumte Lektionen nachzuholen.

Die alte Staatskunst wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hinter den Kulissen wie auf der Bühne mehr gebraucht als in den ruhigeren Zeiten der vergangenen Jahrzehnte. Geschichtliche Weltkenntnis wird, je mehr die Politik globalisiert wird, dringender denn je gebraucht. Das stellt Anforderungen in beide Richtungen: die der Gestaltung und die der Zurückhaltung.

Die meisten Aufgaben der Diplomatie stellen sich längst in diesem Zwischenbereich. Die Welt ist in einem Transformationsprozess, der bei dem Virus und der Pandemie beginnt und beim Weltmachtanspruch Chinas nicht endet. Das alles ist geprägt von der Entwicklung neuer Waffensysteme und Perfektionierung älterer. Lose Reden, vor und hinter der Bühne, können da sehr schnell einen hohen Preis fordern.

Die Pax Americana II wird es nicht geben ohne Klugheit in der Führung und Zurückhaltung in der Anwendung der Macht.

Quelle und gesamter Artikel: welt.de

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