Nachhaltigkeit muss gerade in der Digitalisierung ein zentrales Handlungsprinzip sein

14.10.2022.

Roger Eric Gisi, Gründer und Betreiber der Experten- und Marktplattform Digitale Schweiz/ Digtal Switzerland

Quelle: ictk.ch

In etlichen Bereichen wie etwa der Abwicklung von Finanztransaktionen läuft die Digitalisierung gut voran. Aber gerade wenn es um die direkte Einbeziehung von Konsumenten und Bürgern geht, liegt noch vieles im argen. Roger Eric Gisi, Gründer und Betreiber der Experten- und Marktplattform Digitale Schweiz/ Digtal Switzerland, fordert in diesem Zusammenhang neue Lösungen im Sinne von „by digital design for client“, wie er neben vielen anderen Aspekten der Digitalisierung im Gespräch mit ICTkommunikation betont.

ICTkommunikation: Der Begriff „Digitale Nachhaltigkeit“ ist ja seit längerem ein Buzzword. Was verstehen Sie, als Gründer und Betreiber der Experten- und Marktplattform „Digitale Schweiz“, konkret unter diesem Begriff?

Roger Eric Gisi: Natürlich stellt Nachhaltigkeit auch in der Digitalisierung ein grosses Anliegen dar. Als Handlungsprinzip muss Nachhaltigkeit in jeder Digitalisierungsstrategie einen gewichtigen Teil darstellen. Jedes Unternehmen, der Staat, die Kantone und Gemeinden, jede Organisation braucht eine umfassende Strategie zur Digitalisierung und muss dabei sämtliche Akteure der gesamten digitalen Wertschöpfungskette. seien dies Unternehmen, Menschen und Bürger, mit einbeziehen. Denn alle müssen diese Digitalisierung aushalten, dauerhaft ertragen und entsprechend unterstützen. Ein junges Beispiel, wie es nicht sein soll, liefert die schweizerische Energie-Wirtschaft. Das Management durch Bund und die Kantone in der Schweiz ist hier weder prozessual noch digital nachhaltig, wie dieser Tage unschön ans Tageslicht gekommen ist. In vielen anderen Bereichen von Bund und Wirtschaft ist das leider ebenfalls noch der Fall.

ICTkommunikation: Wann ist denn ein Unternehmen, eine Organisation aus Ihrer Sicht digital nachhaltig unterwegs?

Roger Eric Gisi: Die Digitalisierung erfordert eine Reorganisation der gesamten Aufbau-Organisation, aller Prozesse und das nicht nur von innen betrachtet. Die Bereitschaft und der Grad der Digitalisierung lässt sich oft im Organigramm ablesen. Eine vollumfängliche und konsequente Transformation des Prozesses in der Gesamtheit erfolgt (heute) noch in den wenigsten Organisationen. Oft werden nur die wertschöpfenden Kernprozesse berücksichtigt. In den meisten Organisationen, in denen digitale Transformation mit Hilfe von Projektaufträgen abgewickelt wird, versandet die Bereitschaft einer kontinuierlichen Ausrichtung auf diesen Megatrend im Zeitablauf. Denn, wer kümmert sich nach Projektende um diesen halbherzigen Transformationsversuch? Wo sind die spezifischen Massnahmen, welche die Digitalisierung zur Chefsache machen, eben fortwährend und für alle Unternehmensbereiche und -Beziehungen?

Weder Transformation noch Digitalisierung ist neu; es ist nur die konsequente Fortsetzung der Industrialisierung und der technologischen Machbarkeiten – allerdings mit höherem Tempo und in einer globalisierten Welt, in der (praktisch) alles mit allem vernetzt wird. Innerhalb der letzten fünfzehn Jahre ist die Digitalisierung zu einem Mega- und Zukunftstrend angewachsen.

Und grundsätzlich führt kein Weg daran vorbei. Das gilt für den kleinen Handelsbetrieb, den Handwerker, die Bäckerei, den Hotel- und Gastrobetrieb genauso wie für das internationale Industrieunternehmen. Der Lösungsansatz liegt in der Veränderungsbereitschaft der Menschen, denn die Digitalisierung beginnt im Kopf, dann beim Unternehmen. Dass sie sowohl Ängste als auch Chancen auslöst, ist bekannt. Also – besser heute schon umstellen, diesen Change einleiten, damit Unternehmen und Organisationen umso früher bereit sind.

Aber wichtig ist, dass der Kundennutzen und nicht die Technologie im Vordergrund stehen. Es geht also darum, wie wir die heutigen technologischen Möglichkeiten über die Vernetzung in Nutzen umwandeln. Dazu braucht es einen grossen Erfahrungsaustausch unter allen im gesamten Wertschöpfungsprozess Beteiligten bis hin eben zum Bürger, seinem Haushalt und mit allen Verbindungen in diesem Kreislauf. Es braucht dazu konkrete Angebote, im Sinne einer digitalen Grundversorgung, eine Geschäftsstrategie, ein Businessmodell und die Markt- und Kundenentwicklung; alles darauf ausgerichtet und abgestimmt. Also – ein umfassendes, umfangreiches Vorhaben insgesamt; aber wohl erst dann ist ein Unternehmen digital nachhaltig unterwegs.

ICTkommunikation: Welche konkreten Möglichkeiten hat ein Unternehmen, um die eigene digitale Nachhaltigkeit zu beurteilen und diese zu verbessern?

Roger Eric Gisi: Werden die oben angesprochenen Punkte zu einer Checkliste zusammengetragen, so haben Verantwortliche bereits einen ersten Rahmen für die Beurteilung. „Digitale Schweiz“ hat bereits früh zur Hilfestellung einer Strategiedefinition und dann eben zu dessen Überprüfung das Modell “Digital Trust – Realisation Model” entwickelt, welches ebenfalls für die Beurteilung herangezogen werden kann.

“Digital Trust” beschreibt die Themen einer gesamten IT-Organisation, berücksichtigt also die Management-Perspektive ebenso wie die Sichtweisen von Kunden, Bürgern und Markt sowie auch zentrale Aspekte wie Privacy, Datenschutz und Sicherheit, und zwar immer aus dem Blickwinkel des Vertrauensaufbaues zur Digitalisierung. Im Sinne von Notengebung muss eine Organisation sich selbst beurteilen und durch seine gesamten Beziehungen hindurch ein Feedback einholen. Dann ist die Wirkung und Nachhaltigkeit mit den direkten Akteuren und die Chance auf eine hohe Nutzung und Wirkung gegeben.

ICTkommunikation: Das Credo “Corporate Digital Responsibility” gilt also Ihrer Meinung nach nicht nur für die ICT-Branche?

Roger Eric Gisi: Nein – das eben genau nicht. Sondern sie geht weit darüber hinaus. Die Verantwortung für Transformation und Digitalisierung muss ins gesamte persönliche Netzwerk, in die gesamten Wertschöfungsketten von Produkten und Dienstleistungen und von Waren- und Datenströmen. Prof. Reinhard Riedl, einer unserer Top-Expertenbeiräte in Digitale Schweiz/Digital Switzerland (www.digitaleschweiz.ch), beschreibt in früheren Expertenartikel dieses Thema. Er umrahmt und beschreibt darin die Gesamtheit der Verantwortung für Wirtschaft, Gesellschaft und Privat. So legt er auch dar, wie ein CDR-Minimalstandard für ein Unternehmen und die Gesellschaft heute aussehen könnte – ja müsste.

ICTkommunikation: Die Digitalisierung von Prozessen nimmt markant zu, beispielsweise bei der Abwicklung von Finanztransaktionen. Besteht da nicht grundsätzlich die Gefahr, dass gewisse Bevölkerungsschichten „den Anschluss“ verlieren. Inwiefern stehen da auch die Unternehmen in der Verantwortung, etwa beim Design neuer Produkte und Prozesse?

Roger Eric Gisi: Das mag stimmen, Finanz-Transaktionsprozesse sind tatsächlich schon hochgradig digitalisiert. Auf der anderen Seite sind aber gerade bei den Banken noch viele Prozesse ausserhalb des Kerngeschäftes im „Handbetrieb“ unterwegs. So oder so muss die Wirtschaft dann eben auch mitziehen. Jüngste einfache und praktische Beispiele: Die Umstellung des Einzahlungsscheines auf QR-Code, oder die Schweizer Post mit der Vorschrift, die „uralte“ elektronische ID/Unterschrift zu nutzen. Damit erhalten die Verantwortlichen keine Lobesreden.

Ja – es ist ja korrekt, – im Sinne von Datenschutz oder gar Privacy – wenn Kontextinformationen nicht ungeprüft vertraut werden kann , muss die Identität als zentraler Vertrauensanker angesehen werden (Wer ist die Person, die über das geschützte Netzwerk mit dem geschützten Gerät über eine Applikation auf geschützte Daten zugreifen will?), etc., etc…

Aber genau in diesem Moment der Wahrheit, wenn es um den Vertrauensaufbau zur Digitalisierung, zur Nutzung vertraulicher Daten geht, – gerade da risikiert die Wirtschaft, einen Teil der Bevölkerung abzuhängen. Und das manifestiert sich dann widerum in Negativstimmen zur Digitalisierung. Dabei wären, insbesondere für diesen sensiblen Bereich, neue Lösungen, neue Produkte “by digital design for client” angesagt. Eben aus der Perspektive des Konsumenten, des Nutzers, des Bürgers. Oder – das alte Thema – in unserer Verwaltung. Für praktisch alle Teilprozesse unserer Behörden-Bedürfnisse, füllen wir separate Formulare, Anträge oder gar handschriftlich Zettel aus. Die Steuererklärung, die AHV-Abrechnung, die Lohnausweise und Vermögensnachweise – alle diese Themen laufen heute (meist) noch getrennt; also nicht in eine digitale Government/Bürger-Plattform. Das ist ein “Governement-Unding” im Jahre 2022.

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