Nachhaltiges E-Government – Teil I
24.11.2016
Die Nachhaltigkeit von E-Government hängt von der Qualität seines Designs ab. Das war bisher selten ein Thema in E-Government Programmen. Die E-Government Strategie Schweiz 2016 – 2019 definiert allerdings Nachhaltigkeit als eines von vier Zielen. In diesem zweiteiligen Beitrag wird untersucht, was Nachhaltigkeit im E-Government bedeutet und wodurch sie sich auszeichnet.
Teil I – Was heisst hier nachhaltig?
Nachhaltigkeit im E-Government bedeutet, dass der spätere Nutzen – auch der weit in der Zukunft liegende für kommende Generationen – bei der Entwicklung des E-Government hoch gewichtet wird, und dass Nebenwirkungen berücksichtigt werden, insbesondere auch negative Auswirkungen auf zukünftige Innovationen.
Ich verzichte hier bewusst auf Fachbegriffe und auf eine exakte Definition, denn in der für das E-Government relevanten Praxis hat sich wissenschaftliche Präzision bisher eher als negativ (organisationale Implementierung von Nachhaltigkeit) oder als wenig hilfreich (technische Aspekte von Nachhaltigkeit) erwiesen. Trotz fehlender wissenschaftlicher Terminologie ist obige Beschreibung von Nachhaltigkeit etwas abstrakt. Lassen Sie uns deshalb zuerst identifizieren, was NICHT nachhaltig ist. Ich beschränke mich dabei auf Aktivitäten, die das technische und organisatorische Implementieren von E-Government Lösungen beinhalten. Auch das verwaltungsinterne E-Government ist da miteingeschlossen.
Gibt es nicht nachhaltiges E-Government?
Nicht nachhaltig ist im E-Government ganz viel – selbst dann, wenn wir uns auf Nutzen stiftende Lösungen beschränken (die hoffentlich auch gesetzeskonform sind oder die notwendigen gesetzlichen Änderungen mit beinhalten).
Erstens sind es Lösungen, die entweder schwer verständlich sind, oder deren Nutzung im jeweiligen Anwendungskontext schwierig ist oder deren tatsächlicher Nutzen von einem ganzen Ökosystem abhängt, das weder existiert noch mitgeplant wird. Oft wird es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass sich der Nutzen von innovativen Lösungen allen erschliesst und allen klar ist, wie die innovative Lösung genutzt werden kann. Oder die Nutzenbewertung durch die Nutzer wird falsch beurteilt. Oder die Fähigkeit, Risiken zu managen, wird überschätzt. Et cetera. Oft wird auch Usability zu speziell gedacht, d.h. beispielsweise auf ein Gerät bezogen statt auf konkrete Nutzungsszenarien (Use Cases) und die verfügbaren Informationen dazu. Oft wird auch auf minimalistische Lösungen gesetzt, beispielsweise um möglichst wenig Staat neu zu schaffen (statt zukünftige Privatisierungen einzuplanen).
Problemkreis 1: Ignoranz der Probleme bei der praktischen Nutzung
In diese Kategorie nicht nachhaltiger Lösungen fallen auch alle Lösungen, die zu wenig kommuniziert und beworben werden oder deren organisatorische Implementierung unvollständig ist, weil sie keine explizite Nutzenvalorisierung vorsieht. Beispielsweise stellt sich der vollumfängliche Nutzen verwaltungsinterner IT-Lösungen typischerweise erst nach etwa zwei Jahren ein – und auch dies nur, wenn einerseits die Einführung intensiv betreut wird (durch Beratung, Motivation und konsequentes Einfordern der Nutzung) und anderseits die freiwerdenden Ressourcen auch bewusst neu genutzt werden. Ebenfalls in diese Kategorie fallen Lösungen, deren zukünftiger Betrieb nicht gesichert ist (siehe auch oben die Thematik Ökosystemeinbettung).
Problemkreis 2: Einseitige disziplinäre Dominanz
Zweitens sind es Lösungen, die indirekt die Institutionen im öffentlichen Sektor gestalten, ohne dass dies bewusst beabsichtigt und demokratisch legitimiert wäre. Wenn beispielsweise die neue User Experience die Geschäftsprozesse in der Verwaltung verändert und dabei eine neue Verwaltungspraxis etabliert, die politischen und organisatorischen Zielen widerspricht, so ist das nicht nur nicht nachhaltig, sondern das Gegenteil von nachhaltig. „Institutional design by technology“ kann sich zwar im Einzelfall sehr positiv auswirken, macht häufig aber auch den Bock zum Gärtner.
Allerdings gilt auch umgekehrt: Wenn das Design der E-Government Lösungen nur politischen oder/und organisatorischen Zielen oder existierenden rechtlichen Vorgaben folgt, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sowohl kurzfristig als auch langfristig das Nutzenpotential nicht ausgeschöpft wird. Nachhaltig ist dagegen eine Praxis, die E-Government Lösungen ganzheitlich entwirft und implementiert.
Problemkreis 3: Zukunftsblockade
Drittens ist es nicht nachhaltig, wenn die heutigen Lösungen die Gestaltung zukünftiger Innovationen behindern oder stark verteuern, weil die Umgestaltungs- und Neugestaltungskosten sich stark erhöhen. Dies ist unter anderem deshalb besonders relevant, weil Informationstechnologie sehr schlecht altert. Die Instandhaltung alter Lösungen ist sehr teuer, weshalb es eine Strategie zur stetigen Erneuerung braucht, die aber je nach Lösungsdesign billig, teuer oder fast unmöglich sein kann. Die Berücksichtigung zukünftiger Umgestaltungskosten ist aber auch deshalb wichtig, weil sich die Welt verändert und radikale Unsicherheit einfach nicht wegdiskutiert werden kann, weil weiteres nur durch regelmässige Umgestaltung der Nutzen aus dem Technologiefortschritt gezogen werden kann und weil zudem und nicht zuletzt die Grundideen des E-Government – das Digitalisieren, Integrieren und Teilen von Ressourcen – bei den involvierten Akteuren nur in Form von Mehrschrittprogrammen realisiert werden können.
In diese Kategorie nicht nachhaltiger Lösungen fallen insbesondere in der Schweiz auch Lösungen, die bewusst auf andere Standards setzen als jene der Schweizer E-Goverment Standardisierungsinstitution eCH und jene der EU. Im Einzelfall mag es Gründe geben, warum die vorhandenen eCH Standards nicht die Bedürfnisse erfüllen, in welchem Fall man dann dies von eCH einfordern kann und soll. Aber die Nichtnutzung von eCH untergräbt die verwaltungsinterne Zusammenarbeit und das Vertrauen in das gesamte Schweizer E-Government. Dazu kommt, dass es per se widersprüchlich ist, die mögliche Einbindung Schweizer Lösungen ins europäische E-Government als Ziel zu definieren, gleichzeitig aber Begrifflichkeiten der EU-Standardisierung selber mit anderer Bedeutung zu belegen.
Erweitert betrachtet: Ungenügende Investitionen in die Zukunft
Viertens ist E-Government höchstens eingeschränkt nachhaltig, wenn es zukünftige Innovationen nicht fördert. Wenn beispielsweise nicht zur rechten Zeit übergreifend gültige Standards entwickelt werden, wenn nicht die richtigen Grundlagen für eine zukünftige Datennutzung geschaffen werden, wenn nicht das notwendige Fachwissen aufgebaut wird oder wenn das Verständnis gegenseitiger Abhängigkeiten nicht gefördert wird, et cetera, so sind zukünftige Innovationen schwierig. Allerdings können in den genannten Beispielen die so nicht geschaffenen Grundlagen mindestens teilweise in Zukunft nachgeholt werden und es handelt sich lediglich um aufgeschobene Investitionen. Manchmal macht so ein Aufschieben sogar Sinn, weil mit mehr Wissen über die Zukunft auch zukunftstauglichere Entscheide getroffen werden können, oft ist es aber auch schädlich, beispielsweise wenn fehlendes Fachwissen zur Entwicklung schlechter Lösungen führt. Die Erfahrung im Ländervergleich zeigt: „Late followers follow slowly!“
Das Sünden- und das Tugendregister
Man kann ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende kritischen Phänomene identifizieren, die zur Nicht-Nachhaltigkeit führen:
– Schlechtes Design bzgl. Verständlichkeit und Nutzbarkeit
– Unreflektierte Nebenwirkungen
– Monodisziplinärer Lösungsentwurf
– Ignoranz oder normative Behandlung der Zeitperspektive
– Minimalisiertes Lösungsdenken
– Vermeidbare Formen der Pfadabhängigkeit
– Schlecht gemanagte Komplexität
– Verlorene Kontrolle über die Datennutzung
– Fehlende oder falsche Expertisen
In dieser Liste unter anderem nicht berücksichtigt sind nutzenfreie Lösungen, Lösungen deren Design an sich mangelhaft ist und Lösung die mit vielen schweren Fehlern behaftet sind. Da in der heutigen Welt die Auseinandersetzung mit Problemen zunehmend als unattraktiv angesehen wird (Häufiges Zitat: „Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen!“) ist es nützlich umgekehrt auch die Massstäbe für existierende Nachhaltigkeit (beziehungsweise die positiven Herausforderungen) zu benennen. Das sind im Wesentlichen vier:
1. Hohe Qualität bezüglich Verständlichkeit, Nutzen und kontextbezogener Nutzbarkeit
2. Ausgezeichnetes multidisziplinären Zusammenspiels beim Lösungsdesign
3. Geringer Umgestaltungswiderstand (Reengineering Resistance)
4. Resilienz gegenüber Risiken UND radikaler Unsicherheit
Das sind vier sehr anspruchsvolle Herausforderungen und man kann sich zu Recht fragen, ob das nicht zu viel verlangt ist für das E-Government. Es gibt tatsächlich einige Bereiche, in denen auch ein nicht nachhaltiges E-Government Nutzen bringt und Nachhaltigkeit sogar in die Irre führt. Insbesondere macht es wenig Sinn, in teures nachhaltiges E-Government zu investieren so lange E-Government eine niedrige Maturitätsstufe hat. Wer aber eine hohe Maturität im E-Government erreichen will, der muss sich den anspruchsvollen Nachhaltigkeitsherausforderungen stellen.
Worauf sollte man achten?
Stark vereinfacht gesagt, basierend auf fünfzehn Jahren Erfahrung, steht und fällt die Nachhaltigkeit mit dem Lösungsdesign. Im erfreulichen Fall eines nachhaltigen Designs kann sie aber mit einer nicht konsequenten Implementierung trotzdem scheitern. Entscheidend für das nachhaltige Design ist (1) eine klare Idee zu haben und diese gut verständlich allen Involvierten zu vermitteln, (2) sämtliche relevanten Stakeholder-Perspektiven zu kennen und zu berücksichtigen, sowohl was den Nutzen (oder Nachteil) als auch was mögliche Veränderungen betrifft, (3) die Idee aus Sicht aller relevanten Disziplinen im Detail auszuarbeiten und dabei sich wo notwendig interdisziplinär auszutauschen, sowie (4) ein klares Verständnis des zeitlichen Ablaufs und der Nutzungsskalierung zu haben.