Der rasende Stillstand
von Martin AndenmattenWenn man Kollegen fragt, ob der Pandemie auch etwas Positives abgewonnen werden kann, wird zumindest in ICT-Kreisen oft die angeschobene Digitalisierung in Organisationen hervorgehoben. Der Zwang, von Zuhause aus office-ähnliches Arbeiten zu ermöglichen, hat lange vor sich her geschobene Initiativen und Investitionen urplötzlich möglich gemacht. Onlinekonferenzen, wie sie heute als selbstverständlich und unverzichtbar betrachtet werden, waren oft vor der Covid-Krise auf den Wunschlisten vieler Organisationen, ohne aber die notwendige Zustimmung des Managements zu erhalten. Nun ist Hektik ausgebrochen und die Arbeitsplätze wurden nachgerüstet, was das Zeug hält. Gebremst höchstens von den Lieferengpässen der Lieferanten, wurden Zoom und UCC zu festen Begriffen der Anwender und zu neuen Must-haves für den mobilen Arbeitsplatz. Man wähnt sich schon in der Digitalisierung angekommen zu sein.
Man ist in erster Linie aber mit sich selbst beschäftigt, um den Betrieb in der aktuellen Situation überhaupt zu ermöglichen und das Business aufrechtzuerhalten. Neue Arbeitsmittel und Werkzeuge sind wichtig und sicher auch sinnvoll in der aufgezwungenen mobilen Situation. Wichtig ist auch das Erlernen von neuen Methoden zur digitalen Zusammenarbeit. Collaboration auf Miro- oder Mural-Boards muss gelernt und eingeübt sein. Am besten lernt man das Schwimmen mit dem Sprung ins kalte Wasser und legt den Fokus auf die Beherrschung dieser neuen Umgebungen. Für Innovation in neue digitale Geschäftsprozesse, in die auch Partner und Endkunden eingebunden werden, bleiben zu wenige bis keine Ressourcen übrig. Mit der Digitalisierung von Formularen in elektronisch lesbare PDFs ist die digitale Transformation nicht wirklich geschafft. Auch ein eiligst hingestellter Webshop mit losen Bestellmeldungen in irgendwie weitergeleitete Mailboxen täuschen eher eine digitale Fassade vor als eine belastbare stabile Integration. Mit der Elektrifizierung der Schnittstellen ist die Reise ins digitale Zeitalter nicht wirklich geschafft. Es hat sich eigentlich noch gar nichts verändert. Das Business hat einen eigentlichen Stillstand erlitten, was Innovation und Weiterentwicklung der Geschäftsprozesse angeht.
Viel schlimmer noch. Alte Tugenden wie Qualität, Stabilität, Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit sind in vielen ICT-Organisationen etwas aus dem Blickfeld verschwunden. Dem Zusammenarbeiten auf Distanz und der gleichzeitig auferlegten agilen Selbstverantwortung fehlt oft die steuernde Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit. Obwohl alles irgendwo und irgendwie dokumentiert und in einem neuen Collaboration-Tool hinterlegt worden ist, bleiben die Informationen oft nur dort, wo sie geschrieben wurden, und fliessen nicht zu denen, die sie verstehen müssten. ICT-Services sind primär eine Teamleistung. Jeder muss sich auf den anderen verlassen können, wenn das Resultat stimmen muss. Hier ist Leadership gefragt und nicht bloss Manager, die Tool-Beschaffungsanträge bewilligen.
Quelle und gesamter Artikel: netzwoche.ch