Was kommt nach der Digitalisierung?
Von: Peter Tüscher
Digitalisierung! Für die Einen sorgt der Begriff für euphorisierende Schübe, wenn sie an die schier grenzenlos scheinenden Möglichkeiten denken, die der Digitalisierung zugeschrieben werden. Für Andere wiederum führt der Begriff eher zu Schockstarre und Angstzuständen, da sie mit Digitalisierung verunsichernde Veränderungen und erschreckende Zukunftsszenarien verbinden. Zwischen diesen beiden Extremen liegt ein breites Wahrnehmungsspektrum, denn jeder von uns hat seine ganz individuelle Vorstellung von der Bedeutung und Auswirkung der Digitalisierung.
Auslöser für all die unterschiedlichen Vorstellungen, Erwartungen und auch Befürchtungen ist aber selten die Digitalisierung selbst, also der technische Prozess, bei dem analoge Daten und Abläufe in digitale umgewandelt werden. Es ist vielmehr die Folge der Digitalisierung: die Digitale Transformation. Uns beschäftigt der durch die Digitalisierung angestossene Wandel, der sowohl die Wirtschaft als auch die Gesellschaft in ihren Grundfesten zuerschüttern scheint. Ein Wandel der derart fundamental ist, dass er auch als die 4. Industrielle Revolution bezeichnet wird.
Es liegt wohl in unserer Natur, dass wir Veränderungsprozesse eher negativ wahrnehmen. Denn Veränderung stellt uns vor Herausforderungen. Sie zwingt uns aus unserer Komfortzone. Doch sie bietet uns auch stets Chancen. Und eigentlich müsste uns die Tatsache, dass wir bereits drei Industrielle Revolutionen ganz gut gemeistert haben, zuversichtlich stimmen. Wir haben Mechanisierung, Elektrifizierung sowie die Informations- und Kommunikationstechnologie wertstiftend in unseren Alltag integriert. Wir haben über all die Jahre mittels Wissenschaft und Technologie viele praktisch unlösbar erscheinende Probleme gemeistert. So zeigen auch wissenschaftliche Langzeitstudien, dass sich unsere materiellen wie auch unsere qualitativen Lebensbedingungen durch diese Entwicklungen kontinuierlich verbessert haben.
Jede dieser Entwicklungsphasen war eine Zeit, wo Fundamentales, das für die Ewigkeit geschaffen schien, seinem natürlichen Ende entgegensah. Aber auch eine Zeit, wo Neues entstand, das man so wohl nie für möglich gehalten hätte. Somit sollte uns eigentlich die gemachte Erfahrung dem neuerlichen Wandel positiv entgegenblicken lassen. Und doch, dieses Mal scheint irgendetwas anders zu sein. Dieses Mal scheint die anstehende Veränderung nicht nur etwas Fundamentales, sondern sogar etwas Existentielles zu haben. Warum dem so ist, das dürfte mit zwei bestehenden, in der Tat existentiellen Herausforderungen zusammenhängen.
Mit den Worten des norwegischen Wirtschaftsphilosophen Anders Indset gesprochen, muss unsere Gesellschaft in den nächsten rund 10 Jahren dem drohenden Ökokollaps entgegenwirken. Und sie muss unser Zusammenleben mit maschineller Superintelligenz definieren und regeln. Herausforderungen also, die wir global wie auch lokal, politisch wie auch wirtschaftlich, gesellschaftlich und auch persönlich angehen müssen. Umfassende Herausforderungen, die natürlich auch Wirkung auf das Kundenmanagement haben.
Die letzten Jahrzehnte waren durch Turbokapitalismus und suchtartigen Überkonsum geprägt. Unsere stetig wachsenden Ansprüche haben die Erreichbarkeit der materiellen Zufriedenheit immer wieder in die Ferne gerückt. Zum Glück beginnen wir zu realisieren, dass eine derart ressourcenverschlingende und hochgradig materialistische Lebensweise niemals für alle funktionieren kann – nicht einmal in den Wohlstandsregionen unserer Erde.
Es reift auch die Einsicht, dass wir die für uns so wichtigen Güter wie Anerkennung und Zufriedenheit, Lebenssinn und Selbstverwirklichung nicht einfach aus den Warenhäusern holen können.
Uns ist auch klar geworden, dass Kunden längst nicht einfach nur rationale Individuen mit voraussehbarem Verhalten sind. Der Kunde ist nicht einfach ein Homo Oeconomicus, der per se glücklich wird, wenn er mehr konsumiert. Er ist ein Mensch mit Bewusstsein, Emotionen und Wertvorstellungen. Er interessiert sich immer weniger für Produkte oder Dienstleistungen. Er will Beziehungen, Geschichten und die Magie von Erlebnissen. Emotionen und die Verbundenheit des Kunden zu seinem Anbieter sind heute zum integralen Bestandteil des Kaufentscheidungsprozesses geworden.
Und Künstliche Intelligenz hilft, diese Herausforderungen an das Kundenmanagement zu bewältigen. Denn die Digitalisierung beschert uns Unmengen von Daten, die uns in vielerlei Hinsicht Rückschlüsse auf das Verhalten und sogar auf Verhaltenstreiber von Kunden ermöglichen. KI lässt uns in all der Datenflut Strukturen erkennen, die wir verstehen können. Durch KI können wir auch so komplexe Abläufe wie Kaufentscheidungsprozesse besser nachvollziehen. Wir können gezielt und kundenrelevant handeln. Aber wir können damit auch den Entscheidungsprozess zunehmend beeinflussen.
Genau hierzu entstehen gerade in vielen Köpfen ganz neue Ängste. Viele Diskussionen rund um die Digitale Transformation zielen auf die Angst, dass in absehbarer Zeit Produktion und Logistik weitestgehend automatisiert sein werden, so dass unzählige Arbeitsplätze nicht mehr existieren werden. Aber die Angst, dass künftig mit Künstlicher Intelligenz die Gefühle von Kunden unmerklich und auch umfassend manipuliert werden könnten, wird noch kaum adressiert. Ist mein Entscheid für das «gefühlt» beste Produkte wirklich meinem freien Willen entsprungen? Oder wurde dieser Entscheid von Dritten und mittels KI gezielt beeinflusst? Der manipulative Einsatz von KI ist nicht nur in der Politik ein Schreckensszenario, sondern auch in der Wirtschaft. Die Befürchtung, dass wir als Kunden immer mehr vom König zur Marionette degradiert werden, weckt definitiv Besorgnis. Wie kann ich das erkennen? Wie kann ich mich dagegen wehren?
Jede fundamentale Veränderung wirft Fragen auf und schürt Ängste. Doch die Digitale Transformation eröffnet uns auch ungeahnte Chancen. Wollen wir diese wertstiftenden Möglichkeiten realisieren, dann müssen wir insbesondere auch klar definieren und regeln, wie humane und emotionale Intelligenz mit Künstlicher Intelligenz koexistieren soll. Wir brauchen ein auf die Koexistenz angepasstes soziales Regelwerk sowie adäquate Spielregeln für die Wirtschaft. Wir Menschen müssen den funktionierenden, zielführenden Systemen unserer Gesellschaft mit Einfühlungsvermögen und emotionaler Intelligenz ihre Richtung geben.
Zwingende Grundlagen dazu sind Dialog, Offenheit, Transparenz und konstruktive Kooperation. Für den Einsatz von KI im Kundenmanagement bedeutet dies, dass wir auch endlich beginnen, den Dialog mit dem Kunden aus einer wirklich gelebten Kultur der Kundenorientierung heraus zu betreiben.
Denn Kundenorientierung kann dann einen erfolgreichen Beitrag zur Digitalen Transformation leisten, wenn wir sie in unseren Unternehmen zur überzeugten, gelebten Denkhaltung machen.